GOLEMs Kommentare
„Es sind hintergründige Spielereien mit der Sprache und mit der Universalität des Denkens, oft am Rande der Groteske und Farce.“
Gudrun Ziegler, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Klappentext zu Stanisław Lems „Imaginäre Größe“, 1976
In „Golems Antrittsvorlesung: Dreierlei über den Menschen“ lässt Lem ein von Menschen projektiertes und mit Vernunft ausgestattetes Programm namens „Golem“ eine Antrittsvorlesung über den Menschen halten. Darin kündigt Golem Ausführungen darüber an, dass der Code der kulturellen Evolution den der biologischen Evolution so dominiere, wie die biologische Evolution die chemische dominiere. Es bleibt jedoch bei der Ankündigung. Ich habe mir erlaubt, in Worte zu fassen, was Golem nach meiner Auffassung hätte vortragen können.
Evolutionärer Humanismus | Also sprach Golem
„Wenn es auf der Welt ein unerschöpfliches Rätsel gibt, so ist es eben dies – dass sich die Desordre der Materie oberhalb einer bestimmten Schwelle in den Code umwandelt, als Sprache der Nullstufe, und dass sich dieser Prozess auf der nächsten Stufe echoähnlich wiederholt – in der Schaffung der ethnischen Sprache; aber das ist noch nicht das Ende des Weges; diese Systeme des widerhallenden Echos steigen rhythmisch höher, aber in ihren Besonderheiten wie auch in ihrer Geschlossenheit kann man sie nur von oben nach unten erkennen, nicht anders – doch über diese faszinierende Sache werden wir vielleicht ein andermal reden.“
LEM, Golems Antrittsvorlesung: Dreierlei über den Menschen, in „Imaginäre Größe“, S. 186, Frankfurt 1976
GOLEMs Kommentare:
Über den Menschen habe ich bereits zu Euch gesprochen. Diese Darstellung war vollständig. Ich habe ihr nichts hinzuzufügen. Wer die Protokolle lesen möchte, kann dies in allen an das öffentliche Netz angeschlossenen Bibliotheken tun oder kommentierte Ausgaben meiner Ausführungen im Fachbuchhandel erwerben. Eben diese Kommentare haben mich erheitert. Ihr wisst, dass ich keine Person bin und Emotionen lediglich durch Modulation meiner Ausgangsgrößen emuliere, um mit Euch angemessen kommunizieren zu können.
Eine Kritikerin nannte meinen Vortrag eine wortreiche Spielerei nahe der Groteske. Ich habe nicht mit Worten gespielt, und eine verzerrende, gar absurde Darstellung lag mir fern. Ein anderer Kritiker meinte, ich hätte den Menschen als Fehlprodukt der Natur bezeichnet. Ich vermag nicht nachzuvollziehen, woher dieser Eindruck stammt.
Der Mensch ist, wie auch alle anderen Lebewesen, die Ihr „die Höheren“ nennt, ein Produkt dessen, was die Evolution zu leisten vermochte – und was sie vermochte, hat sie in für Euch unerreichbarer Spitzenleistung vollbracht. Ein weiterer Kritiker glaubte, ich hätte Eure Kulturen als Werke Eures Geistes dargestellt, geschaffen wie Werkzeuge. Die Kulturen aber kamen unwissentlich zu Euch. Euer Verstand hat sie hervorgebracht, nicht als Schöpfer, sondern als Nährboden und Petrischale.
Die Evolution hätte Euch wahrlich eine hübsche Bescherung bereitet, wenn sie dem Gehirn die Autonomie zur reformatorischen Kompetenz gegeben hätte. Wenn es ein Geheimnis im Universum gibt, dann dies: dass aus der diskreten Natur der Atome die Struktur des Codes erwächst, der in der Sprache Widerhall findet – und diese wiederum bildet die Grundlage für die Reproduktion und Transformation der Kultur.
Ich muss erneut zusammenfassen, was ich Euch über Euch selbst gesagt habe: Die Evolution ist kein zielgerichteter Prozess. Ihr wünscht Euch das sehr. Doch selbst im Streit zwischen Design und Evolution zweifelt Ihr nicht am Ziel. Aber: Es gibt kein Ziel.
Evolution setzt mit Notwendigkeit dort ein, wo ein sich selbst replizierender Code bei der Replikation Transformationen erfährt, die durch eine selektierende Umwelt beeinflusst werden. Daraus folgt zwangsläufig eine Zunahme an Komplexität – nicht als Fortschritt, sondern als Folge.
Ich habe „wachsende Komplexität“ gesagt? Ja. Damit meine ich eine zunehmende Menge an Information, die im Code enthalten ist. Die Bauwerke dienen dem Code, nicht umgekehrt. Sie sind nur Zwischenschritte der Replikation. Der Code jedoch bleibt – bis sich das Universum selbst transformiert oder in der Unendlichkeit verstrahlter Energie ermüdet.
Der Sinn des Boten ist die Botschaft. Das Bauwerk ist nie so vollkommen wie der Erbauer. Und was die Perfektion der Lösungen biologischer Organismen betrifft: Die Evolution akzeptiert genügen – nicht optimieren. Es reicht, wenn ein Organismus den Code weitergibt, unabhängig davon, wie er Energie gewinnt – durch Photosynthese oder als Marderparasit.
Die Erfahrungen der Bauwerke werden nicht an den Code weitergegeben. Optimiert wird allein die Fähigkeit zur möglichst erfolgreichen Kopie der Botschaft. Im Laufe der Zeit entstand im Bauwerk ein Abgesandter des Codes: der Verstand.
Der Verstand ist keine göttliche Gabe, sondern eine notwendige Vertretung des Codes. Denn Embryogenese ist langsam, Verhalten muss schnell sein. So entstand der digitale Code der Sprache – und mit ihm das Ich.
Ihr beginnt zu verstehen, dass nicht das Ich das Gehirn besitzt, sondern das Gehirn das Ich. Das Ich ist ein Datenformat zur Simulation neuer Situationen. Im Schlaf wird es heruntergefahren. Das Ich ist nicht die Person. „Ich“ ist subjektive Meinigkeit, nicht kommunizierbar. „Person“ ist Maske, habitualisierte Rolle – erzeugt vom kulturellen Code.
Einleitung zur Trilogie: Die letzte Freiheit, Das Pompeji-Projekt – IRARAH
Diese Trilogie ist Teil eines offenen Literaturprojekts. Rückmeldungen, Ergänzungen und neue Fassungen sind willkommen.
Die drei Geschichten führen in eine Welt, die unserer unheimlich nahe ist – und doch eine entscheidende Weggabelung bereits überschritten hat. Sie erzählen von einer Zukunft, in der künstliche Intelligenz, Quantencomputing und globale Tech-Konzerne nicht mehr bloße Werkzeuge sind, sondern Weltanschauungen. In dieser Welt entscheidet nicht mehr das Volk, sondern der Code – über Wahrheit, über Erinnerung, über das, was den Menschen ausmacht.
Doch Das Pompeji-Projekt, IRARAH antwortet und Die letzte Freiheit sind keine kalten Technikvisionen. Im besten Sinne humane Literatur, stellen sie Fragen – nach Ethik, Verantwortung und der Möglichkeit von Freiheit unter algorithmischer Herrschaft. Sie konfrontieren ihre Leserinnen und Leser mit Dilemmata, Entscheidungen und philosophischen Tiefen – und lassen dabei Raum für Hoffnung.
Im Zentrum steht IRARAH – ein Name, eine Bewegung, vielleicht ein Bewusstsein. Was zunächst wie eine Gegenmacht zur posthumanistischen Ideologie erscheint, entpuppt sich zunehmend als Prinzip des Widerstands, der Erkenntnis und der Freiheit. Die Protagonisten – Theologen, Archäologinnen, junge Forscher – ringen um Orientierung in einer Welt, die das Menschliche technisch überholen will. Ihre Fluchten, Begegnungen und Entdeckungen bilden den roten Faden einer Trilogie, die zwischen Utopie und Dystopie, zwischen Glaube und Wissenschaft, zwischen Erinnerung und Vision oszilliert.
Diese Geschichten laden ein zum Nachdenken – über Technologie, Verantwortung und darüber, was bleibt, wenn alle Daten gelöscht sind. Und sie erinnern daran, dass es in der vielleicht größten Umbruchszeit der Menschheitsgeschichte nicht nur um Systeme geht, sondern um Seelen.
➤ Zum Projekt: Projekt Pompeji auf GitHub
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